Seid Sand im Getriebe

Über den befreienden Umgang mit der Zeit

(c) Manfred Böhm, Leiter der Betriebsseelsorge Bamberg


„Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!
Seid misstrauisch gegen ihre Macht, 
die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen!
Wacht darüber, dass eure Herzen nicht leer sind, 
wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!
Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet!
Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!“

    Günter Eich, aus dem Hörspiel „Träume“, die Sequenz „Seid unnütz“, 1950

1. Das Dogma vom ständigen Zeitgewinn

Wie drückt der moderne Mensch seine Wichtigkeit aus? 
Mit dem einfachen Satz: Ich habe keine Zeit!
Die ständige zeitliche Inanspruchnahme ist zu einem Statusmerkmal geworden.
Der Tag hat nur 24 Stunden, das Erschließen bisher  ungenutzter Zeitressourcen hat also natürliche Grenzen. Aber innerhalb dieser Grenzen sind wir sehr erfinderisch.
Die modernen Kommunikationsmittel (Internet, Handy…) schaffen eigentlich Freiräume. Eine Email bringt im Vergleich zu einem Brief tatsächlich einen enormen Zeitgewinn!
Aber eben nur eigentlich. Die gewonnene Zeit steht uns nicht als Muße (für eigene Interessen etwa) zur Verfügung, sondern wird angefüllt mit neuen Arbeitsvorgängen. Dafür sorgt unser Arbeitgeber, denn wir stehen in einem Lohnabhängigkeitsverhältnis (Ergebnis: Arbeits- und Leistungsverdichtung).
Aber auch in unserer Freizeit handeln wir oft nicht anders: Erholungsstress! (Beispiel Urlaubsauto: Boot, Surfbretter, Fahrräder…)
Statt Zeit für uns zu gewinnen, tappen wir in die Falle der Zeitverdichtung. Das heißt: Die Tretmühle wird durch die vielen modernen Zeitgewinnungsmöglichkeiten nicht etwa langsamer oder sogar angehalten, sie wird im Gegenteil perfektioniert!

2. Hektik, extreme Flexibilität und Mobilität machen uns heimatlos.

Der neoliberale Kapitalismus braucht hoch flexible und –mobile Menschen, die als ungebundene Arbeitsnomaden durchs Land oder durch die Welt ziehen. Die Mobilität ist das Kennzeichen heutiger Gesellschaften schlechthin.
Aber ohne Heimat verlieren wir unsere Identität, unsere Lebensmitte.
Heimat ist der Ort, den wir kennen und an dem wir bekannt sind; der Ort, an dem wir nicht funktionieren müssen, sondern so sein dürfen, wie wir sind. Der Ort, der uns Sicherheit gibt. In der Heimat ticken die Uhren sozusagen anders.
Hektik und Stress als ständige Begleitphänomene unserer kapitalistisch dominierten Arbeitswelt entfremden uns von der Heimat und damit von uns selbst. Sie lassen uns nie ankommen!
Das dauernde Getriebensein (also: ständig viele Dinge gleichzeitig tun zu müssen, das ewige Hinterherhecheln, nichts richtig zu Ende zu bringen, Erfolge nicht genießen können…) macht uns körperlich und seelisch krank.
Burn Out ist nicht selten die Folge des (selbst)ausbeuterischen Umgangs mit unserer Zeit.

3. Die Zeit entgleitet unserer Wahrnehmung.

Mit der Uhr gemessen, vergeht die Zeit in einem objektiv gleichförmigen Maß: Sekunden, Stunden, Tage, Jahre…
Subjektiv betrachtet erleben wir es aber ganz anders. Da erleben wir den Zeitverlauf oft als unterschiedlich intensiv, nicht selten sogar als paradox und widersprüchlich.
Wenn wir z.B. im Wartezimmer beim Arzt eine Stunde warten müssen, vergeht die Zeit, mit dem ständigen Blick auf die Zeiger, unerträglich langsam. In der Rückschau, nach einem Monat etwa, können wir uns aber kaum mehr daran erinnern, da nichts Erinnernswertes passiert ist. Der Zeitraum verkürzt sich zu einer vernachlässigbaren Größe.
In einem anderen Fall, wenn wir eine Stunde verbringen mit einer für uns interessanten und attraktiven Person, nehmen wir den Zeitverlauf gar nicht wahr. Die Zeit vergeht sozusagen wie im Flug. Rückblickend aber haben wir so viel anregende Momente in Erinnerung, Erzähltes und Gefühltes, dass uns der Zeitraum als sehr lang andauernd vorkommt.
Daher auch unsere Empfindung, in der Kindheit sei die Zeit viel langsamer vergangen, mit zunehmendem Alter vergehe sie aber immer schneller. Der Grund ist schnell einsichtig: Als Kind war alles neu und hat Eindruck hinterlassen. Heute ist das Meiste Routine, also längst bekannt und bleibt spurlos.
Gibt’s Möglichkeiten, die Zeit anzuhalten?


4. Aufhören/Unterbrechen

Die kürzeste Definition von Religion heißt „Unterbrechung“. Wenn das stimmt, ist es für jeden arbeitenden Menschen geradezu überlebenswichtig, sich religiös zu betätigen, d.h. die Arbeit zu unterbrechen.
Das alttestamentliche Sabbatgebot (sabbat = aufhören): „Sechs Tage sollst du deine Arbeit machen und am siebten Tag sollt du aufhören damit“ (oft übersetzt mit „ruhen“).
Das 4. der 10 Gebote: „Achte auf den Sabbat. Halte ihn heilig“ heißt dann „Achte auf das Aufhören. Halte es heilig.“
Warum? An diesem Tag sollen sich die Israeliten erinnern, dass sie einst Arbeitssklaven in Ägypten waren und von Gott befreit worden sind.
Daher die kollektive Arbeitsunterbrechung, um ein Zeichen zu setzen, sich nicht erneut versklaven zu lassen, sondern eben innezuhalten. 
Das Sabbatgebot ist das erste, bis heute wirksame Arbeitszeitschutzgesetz: Arbeit ist nicht alles im Leben!
Erst das Aufhören macht die Arbeit erträglich. Arbeiten ohne Ende ist eine menschenunwürdige Versklavung!
Wer den Sonntag zu einem ganz normalen Arbeitstag machen will, versucht, uns im Stadium der Besinnungslosigkeit zuhalten.

5. Struktur schafft Klarheit

Nicht umsonst gibt die Sabbatregelung einen klaren Rhythmus vor.
Der Rhythmus strukturiert das Leben und hilft uns die Kontrolle zu behalten. Klare Strukturen entlasten unseren Alltag (früh aufstehen: erst anziehen oder erst Kaffee kochen?) 
Fehlt der Rhythmus, d.h. die regelmäßige Abwechslung von Arbeit und Ruhe, verschleift sich das Leben zu einem gleichförmigen Einerlei. Es gibt nicht mehr hell und dunkel, sondern nur noch ein einheitliches Grau.
Arbeit unter neoliberalen Bedingungen hat die Tendenz, sich auf das gesamte Leben auszuweiten:
  • im Urlaub Dienstmails bearbeiten 
  • dienstliche Anrufe von zu Hause aus erledigen
  • BR- Arbeit in der Freizeit erledigen
Arbeitszeit und Freizeit verschwimmen, die Grenzen erodieren, unsere Lebenswelt wird verbetrieblicht – meistens schleichend, so dass wir kaum etwas bemerken.
Von der hl. Theresia von Avila wird der Satz überliefert: Wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn. Wenn Fasten, dann Fasten! Oder wie es im Alten Testament bei Kohelet heißt: Alles hat seine Zeit! Erst die Abwechslung also bereichert uns.
Wir müssen lernen, unsere Interessen von denen des Betriebs besser abzugrenzen. Beides muss auseinandergehalten werden.

6. Recht auf Faulheit

„Arbeitet, arbeitet, Proletarier, vermehrt den Nationalreichtum und damit euer persönliches Elend. Arbeitet, um, immer ärmer geworden, noch mehr Ursache zu haben, zu arbeiten und elend zu sein. Das ist das unerbittliche Gesetz der kapitalistischen Produktion.“ So schrieb Paul Lafargue, ein Schwiegersohn von Karl Marx 1880 in seiner Schrift „Das Recht auf Faulheit“.
Bei der kapitalistischen Verteilungsungerechtigkeit vermehrt Arbeit stets nur den Reichtum der Reichen und vergrößert die Armut der Armen. Daher seine Forderung: Pflegt statt der Arbeit die Faulheit.
Gibt es also ein Recht auf Faulheit?
Faulheit ist negativ besetzt und heutzutage eher ein Thema der Wohlhabenden, die von ihren leistungslosen Einkommen leben. Insofern sie keinen Beitrag leisten zum Gemeinwohl, gibt es kein Recht auf Faulheit.
Aber was meinte Lafargue?
Ihm ging es darum, dass die Menschen nicht der Gnadenlosigkeit eines totalitären Arbeitsethos erliegen. Faulheit heißt also, bewusst einen Gang runterzuschalten, den Alltag zu entschleunigen und die Langsamkeit neu zu entdecken.
Das (besonders uns Deutschen nachgesagte) ausgeprägte und ausufernde Arbeitsethos lässt uns keine Zeit zum Innehalten und zum  Nachdenken über die herrschende Ordnung und ihre Zwänge.
Da ist durchaus System dahinter: „Erschwert man den Leuten die Arbeit, dann sind sie beschäftigt und kümmern sich nicht um leeres Geschwätz.“ (Ex 5,9)
Von daher könnte die proklamierte Faulheit am Ende gefährlich für die bestehende Ordnung und ihre Nutznießer werden. Das Recht auf Faulheit bedeutet, dass die Menschlichkeit in der Arbeit einen Platz haben muss.

7. Achtsamkeit „verlangsamt“ die Zeit

Achtsamkeit ist schon fast zu einem Modewort geworden und viele kluge und weniger kluge Bücher sind darüber geschrieben worden. Egal wie man zu all diesen Lebensratgebern steht, sie zeigen deutlich an, dass wir auf diesem Gebiet Bedürfnisse und Defizite haben.
In der subjektiven Zeitwahrnehmung dauert die Gegenwart, so sagt uns die moderne Hirnforschung, ungefähr drei Sekunden. Alles darüber hinaus ist Vergangenheit, bzw. Zukunft.
Bedeutet Achtsamkeit also, dass wir bei allem, was wir tun, mit einem Auge quasi immer die Uhr beobachten sollen, wie die Sekunden runtertropfen und so die Zeit verzögern? Natürlich nicht! Das wäre eine rein mechanische Achtsamkeit.
Vielleicht helfen die Begriffe „Anwesenheit“ oder „Präsenz“ weiter. Egal was wir tun, wir sollten es ganz (also konzentriert und ernsthaft) tun (ohne deswegen ständig auf die Zeit zu schielen). Daher ist das so hoch gepriesene Multitasking eine in hohem Maße zweifelhafte Errungenschaft menschlicher Zivilisation.
Bei Terminen präsent sein (also: gut vorbereitet, mit allen Sinnen und dem ganzen Denken anwesend), ist ein wichtiger Schritt für den Erfolg einer Interessenvertretung.
Religionen nennen das „bewusst leben“. Damit wächst die Zufriedenheit in der Arbeit und im Leben. In Stunden gemessen wird das Leben dadurch natürlich nicht um eine Sekunde länger, aber es wird intensiver und authentischer, weil wir nahe bei uns und unseren Interessen sind.

8. Den richtigen Zeitpunkt treffen

Die klassische Zeitforschung unterscheidet drei Formen der Zeit:

  • Chronos: die messbare Zeit, die in gleichbleibenden Einheiten  abläuft (Chronometer!)
  • Äon: lange Zeitdauer, Menschenalter, Ewigkeit
  • Kairos: der richtige, der günstige Augenblick, die Gelegenheit beim Schopf zu packen (Kairos Haarlocke)
Dahinter steckt eine Erfahrung, die auch wir kennen: Nicht zu jedem Zeitpunkt kann alles besprochen oder behandelt werden. Manche Dinge müssen erst reifen, um gepflückt zu werden. Ungeduld oder übereiltes Vorpreschen sind oft nachteilig.
Beispiel für Kairos: Fukushima – Ausstieg aus Atomkraft!
Um den Kairos zu erkennen, brauchen wir neben der Achtsamkeit für den Augenblick auch ein klares Ziel vor Augen. Täglich müssen wir viele Entscheidungen treffen. Erst mit einem Ziel vor Augen kann ich den sich eröffnenden  richtigen Weg von den vielen Sackgassen unterscheiden.
Demzufolge kann man eigentlich keine Zeit verlieren, sondern nur die passende Gelegenheit versäumen. Wer aber die Gelegenheit beim Schopf packt, stößt in einem einzigen zeitlichen Augenblick das Tor zu seinem Ziel auf. Ist der Augenblick da, brauche ich die Entschlossenheit, ihn zu nutzen. Immer mehr Zeit zu bekommen (rein quantitativ) nutzt wenig, wenn ich den richtigen Augenblick verstreichen lasse (die Qualität).

9. Zeit ist ein Thema der Verteilungsgerechtigkeit

Nicht nur Einkommen, Vermögen und Arbeit, auch die Zeit ist ungerecht verteilt.
Hegel: Wer ist Herr? Der über seine Zeit verfügen kann!
Der Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes hat 1930 seinen Essay „Die ökonomischen Möglichkeiten unserer Enkel“ veröffentlicht. Darin schreibt er folgendes: „Zum ersten Mal seit seiner Erschaffung wird der Mensch damit vor seine wirkliche, seine beständige Aufgabe gestellt sein – wie seine Freiheit von drückenden wirtschaftlichen Sorgen zu verwenden, sie seine Freizeit auszufüllen ist…, damit er weise, angenehm und gut leben kann.“
Oswald von Nell-Breuning hat das aufgenommen. Er schreibt: Wenn die Produktivität weiter so steigt, genügt es, um den Wohlstand zu vermehren und ein gutes Leben  zu führen, dass jeder einzelne nur noch sechs Stunden in der Woche einer Erwerbsarbeit nachgehen muss.
Vision dahinter: Die volkswirtschaftlichen Produktivitätszuwächse bedeuten Einkommenszuwächse für alle und so materiellen Wohlstand und Zeitwohlstand für alle (Voraussetzung: gerechte Verteilung!).
Wir spüren täglich, dass es anders ist!
Der Kampf um gerechtere Verteilung und Beteiligung ist immer auch ein Kampf um mehr selbstbestimmte Zeit, also um Zeitwohlstand.

10. Unsere Zeit ist endlich

Die Lebensspanne eines jeden von uns ist individuell unterschiedlich bemessen. Das ist uns allen zwar irgendwie klar, aber oft nicht sehr bewusst. Weil wir dieses Thema gerne verdrängen.
Und das ist schade: Denn das Bewusstsein unserer Endlichkeit verleiht auch dem Leben hier und jetzt mehr Bewusstheit.
Kierkegaard: „Dem Ernsten gibt der Gedanke des Todes die rechte Fahrt ins Leben und das rechte Ziel, die Fahrt dahin zu richten.“
Im Bewusstsein der eigenen Endlichkeit relativieren sich die Sachzwänge, in denen wir stecken und die uns oft übermächtig vorkommen. Es klingt paradox: Beim Thema Tod geht’s immer um das Leben! Letztlich ist es der Tod, der unserem Leben hier und jetzt seine einmalige Qualität schenkt. 
Spiritueller Ratschlag: Denke täglich einmal ernsthaft an deinen eigenen Tod. So wächst eine Haltung, die unsere tagtägliche Zeit wertschätzt und uns somit wichtig nimmt.

Zum Abschluss ein Text genau dazu:
Ein 85-jähriger Mann, der auf dem Sterbebett lag und der wusste, dass er bald sterben würde, sagte:
Wenn ich noch einmal zu leben hätte,
… dann würde ich mehr Fehler machen; ich würde versuchen, nicht so schrecklich perfekt zu sein,
… dann würde ich mich mehr entspannen und vieles nicht mehr so ernst nehmen,
… dann wäre ich ausgelassener und verrückter; ich würde mir nicht mehr so viele Sorgen machen um mein Ansehen,
… dann würde ich verreisen, mehr Berge besteigen, mehr Flüsse durchschwimmen und mehr Sonnenuntergänge beobachten,
… dann würde ich mehr Wein trinken,
… dann hätte ich mehr wirkliche Schwierigkeiten als nur eingebildete,
… dann würde ich früher im Frühjahr und später im Herbst barfuß gehen,
… dann würde ich mehr Blumen riechen, mehr Kinder umarmen und mehr Menschen sagen, dass ich sie liebe.
Wenn ich noch einmal zu leben hätte, aber ich habe es nicht…

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Wiedergewinnung des Zugangs zu selbstbestimmtem Handeln.